5. Tallinn – Digitalisierung

Bei der Planung meiner Tour-Termine war natürlich auch immer die eventuelle Sprachbarriere ein Thema. Bei Ausschussreisen in Nachbarländer ist dies für uns Abgeordnete jeweils bequem durch das Protokoll oder Ausschussreferat organisiert. Entweder sprechen unsere Gesprächspartner*innen deutsch oder es ist für das Dolmetschen gesorgt. Bei meiner Baltic Sea Tour musste ich auf diesen Komfort verzichten und davon ausgehen, dass die Termine auf Englisch stattfinden. Ich sah darin kein nennenswertes Problem da mein Englisch für Alltagssituationen bislang völlig ausreichend war.

Die ersten Termine waren allerdings doch nicht ganz unproblematisch. Sich bei einem fachspezifischen Thema zwei Stunden auf den Inhalt zu konzentrieren ist eben doch anstrengender als der übliche Smalltalk – auch wenn es von Mal zu Mal besser lief.
Beim fünften Termin erwartete mich dann eine angenehme Überraschung: Entgegen der ursprünglichen Planung war mein Gesprächspartner ein Deutscher. Und damit nicht genug – Tobias Koch hatte, bevor er eine Estin heiratetet und nach Tallinn zog, einige Zeit in Potsdam gelebt. So klein ist die Welt.

Wir waren verabredet im Showroom von Enterprise Estonia, der estnischen Wirtschaftsförderung. Dieser wurde 2009 eingerichtet um der stetig wachsenden Interessentenschar die Möglichkeit zu geben, sich darüber zu informieren, wie es Estland in wenigen Jahren zu einem Vorzeigebeispiel in Sachen Digitalisierung gebracht hat. Und das Interesse ist enorm. Über 650 Delegationen von überall in der Welt nahmen im vergangenen Jahr das Angebot wahr.

Von überall? Leider nicht: Während sich von Hamburg bis Baden-Württemberg bereits auch diverse deutsche Einträge im Gästebuch fanden, war ich offenbar der erste Besucher aus Brandenburg der sich dafür interessierte, was wir beim Thema Digitalisierung von unseren baltischen Nachbarn lernen können. Und davon gibt es einiges.

Die Esten hatten sehr früh erkannt, dass es eines Wettbewerbsvorteils bedurfte um nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – und dem damit verbundenen Wegfall eines großen Absatzmarktes – auf einem globalisierten Markt bestehen zu können. Estland wollte trotz begrenzter Ressourcen auf Augenhöhe mitspielen. Schnell wurde der Aufbau einer gut funktionierenden IT-Infrastruktur als probates Instrument hierfür identifiziert. Dabei war die Ausgangslage mehr als schlecht, so waren beispielsweise fast keine Telefonanschlüsse vorhanden. Dieser Nachteil wandelte sich allerdings insofern zum Vorteil da er den nötigen Handlungsdruck mit sich brachte, schnellstmöglich funktionierende Leitungs- und Mobilfunk-Infrastruktur aufzubauen. Innerhalb kurzer Zeit entstand so eines der modernsten IT-Netze Europas. Zunächst brachte man Unternehmen, Universitäten, Schulen und Bibliotheken ins Internet. Inzwischen verfügen 88% der Haushalte über Glasfaseranschlüsse.

Aber nicht nur bei der Hardware legten die Esten ordentlich vor. Die gesamte IT-Infrastruktur hatte höchste Priorität. Mit der sogenannten „X-Road“ steht Verwaltungen und Institutionen inzwischen ein komplettes System aus Hardware, Datenbanken, Konzepten und Standards zur Verfügung. Alle Daten sowie deren Austausch werden dabei zum einem gegen Manipulation und Missbrauch geschützt. Zum anderen hat jede/r die Möglichkeit vollumfänglich Einsicht zu nehmen, welche Daten von sich, wo erfasst sind und wer darauf Zugriff hat. Dieses „truth by design“ hat das Vertrauen in die Technik ungemein erhöht. Tobias demonstrierte mir dies praktisch anhand seiner persönlichen Krankenakte aus der genau hervorging, wann welcher Arzt auf welche Information zugegriffen hatte.

Ob Fahrzeug-Zulassungen, Parlamentswahlen, Arbeitslosengeldanträge oder der Organspende-Ausweis: 99% aller Behördengeschäfte lassen sich in Estland inzwischen per Internet erledigen – Immobiliengeschäfte sowie Heirat und Scheidung ausgenommen. Geschätzte 800 Jahre Arbeitszeit werden damit jährlich eingespart. Tobias‘ Rekord bei der Abgabe seiner Steuererklärung lag bei 45 Sekunden. Um Unternehmen die Ansiedlung zu erleichtern wurde die Möglichkeit einer „e-residence“ geschaffen – 4.000 Unternehmen haben die Form der digitalen Zweigstelle bereits genutzt.

Bei meinem Besuch erfuhr ich aber auch von Rückschlägen. 2007 legte eine Cyberattacke Estland fast komplett lahm. Die Konsequenzen daraus waren unter anderem noch sicherere Datenverkehre und -routinen sowie die Einrichtung eines zusätzlichen Backup-Systems im Ausland (Luxemburg). Angesichts der Tatsache, wie viele Funklöcher und langsame Internetanschlüsse wir in Brandenburg nach wie vor haben, hatte ich am Ende meines Termins das Gefühl, dass wir in der Mark nicht ein oder zwei Schritte zurück liegen – Estland ist IT-technisch eine komplett andere Welt.

Wenn wir bei uns nicht schleunigst eine erhebliche Temposteigerung in Richtung Digitalisierung hinbekommen, werden wir den Anschluss an fortschrittliche Länder uneinholbar verpassen. Und das betrifft nicht nur die Hardware. Wir brauchen die passenden Konzepte und vor allem die nötige Einstellung seitens der Verantwortlichen in Ministerien und Verwaltungen hierzu. Mein Gastgeber bat mich, der Brandenburger Landesregierung die Einladung zu überbringen, sich ebenfalls im Showroom und bei persönlichen Gesprächen Anregungen und Hilfestellung hierfür zu holen.
Ich fordere eindringlich dazu auf dieses Angebot anzunehmen.

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