Vom, aber nicht im Müll leben – Ein Interview

Buenos Dias Jesus. Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Erzähle doch bitte zunächst ein wenig über Dich persönlich, wo Du herkommst und wo Du jetzt lebst.

Ich bin 46 Jahre und lebe seit 20 Jahren auf der Straße. Ich komme ursprünglich aus Cordoba ungefähr 8 Stunden von hier. Jeder kennt mich, jeder hilft mir. Viele Leute fragen mich, was ist mit Deiner Familie los. Ich sage: Meine Familie, das sind die Personen, die mir immer viel geholfen haben.

Nachdem mein Vater gestorben ist, habe ich alleine bei meiner Mutter gelebt. Sie hat mir immer geholfen. Aber dann hat sie einen neuen Mann geheiratet und mit ihm einen Sohn bekommen. Als meine Mutter gestorben ist, hat mein Halbbruder das Haus verkauft. Dann hatte ich kein Zuhause mehr wo ich wohnen konnte.

Zuerst hatte ich in einem Attraktionspark gearbeitet und dort die Maschinen bedient. Ich habe nicht viel verdient aber ich hatte noch nie einen großen Geldbedarf. Dann habe ich Ärger mit einem Arbeitskollegen bekommen und der Kollege hat mich rausgedrängt aus meinem Job. Aber ich sage: Mein Leben ist mit Gott.

Ich bin danach in Santa Marta geblieben. Und weil ich keine Arbeit hatte, fing ich an mit dem Müllsammeln und Recycling. Inzwischen gibt es sehr viele von uns. Als ich angefangen habe, waren es noch wenige, aber als dann die Venezolaner gekommen sind wurden es mehr. Jetzt sammeln hauptsächlich die Venezolaner den Müll. Es ist halt schwierig. Früher hat man in den Müll geschaut und da war immer etwas Brauchbares drin. Und jetzt guckst Du rein und da ist halt nichts drin.

Hast Du hier in Santa Marta ein bestimmtes Gebiet wo Du Müll sammelst?

Nein, jeder kann überall hin. Aber ich gehe hier eigentlich nie aus meiner Ecke raus.

Wie ist Deine Arbeit so insgesamt und wie lange musst Du arbeiten um über die Runden zu kommen?

Ich arbeite jeden Tag. Mal so, mal so. Ich nehme mir meine Zeit. Ich habe ja keine Verpflichtungen. Ich arbeite den ganzen Tag wie ich will. Manchmal liege ich auch nur rum, oder sitze, wie es mir gefällt. Als ich noch einen Karren hatte, da bin ich den ganzen Tag umhergezogen. Doch dann gab es da so eine Vereinigung der Müllsammler – die haben mir den Karren weggenommen. Aber eigentlich sind die Müllsammler nicht organisiert. Der Müll gehört niemanden. Der Besitzer ist der, der als erster kommt. Die Polizei belästigt mich nicht, sie belästigen keinen von uns.

Wohin bringst Du den gesammelten Müll?

Das ist weit weg. Manchmal leihen meine Freunde mir ein Fahrrad. Damit geht es besser. Die Sammelstation ist am Markt im Zentrum. Alles was ich habe, bringe ich direkt da hin. Also auch wenn ich nur einen Sack habe oder so. Die Annahme ist eigentlich nur tagsüber. Es gibt aber Leute, die arbeiten dort rund um die Uhr. Diejenigen, die nachts ankaufen, bezahlen dir aber nicht den Preis wie tagsüber. Weil die das dann tagsüber verkaufen und die Differenz ist dann ihr Gewinn. Also wenn ich nachts Hunger habe aber kein Geld, dann bringe ich die Sachen dort auch nachts hin.

Wieviel brauchst Du am Tag zum Leben und schaffst Du, dies immer zu verdienen?

An einem guten Tag können es 25.000 bis oder 30.000 Pesos (circa 6 bis 7 €) sein. Aber wenn ich einen richtigen „Kupferschatz“ finde sind es sogar 100.000 oder 200.000. Dann freut man sich wahnsinnig. Mein bester Tag bisher war 150.000. Man bekommt unterschiedlich viel für die Müllarten: Für ein Kilo Aludosen sind es 2.000, für Plastik nur 300, Papier 70, Stahl 3.000, Bronze 7.000 und Kupfer 10.000. Glas bringt fast gar nichts: 30 Pesos fürs Kilo. Das nehme ich nicht mehr mit. Es gibt aber auch Pfandflaschen, die wiegt man nicht, die werden pro Stück bezahlt, 100 Pesos pro Flasche.

Wie sieht ein schlechter Tag bei Dir aus?

Ich hatte noch nie einen schlechten Tag. Gott hat immer irgendetwas für mich. Auch wenn es wenig ist, es kommt ja von Gott – also ist es viel.

Und was ist, wenn Du mal nicht arbeiten kannst, z.B. wenn Du krank bist?

Ich habe eine Versicherung. Es gibt eine Grundversicherung für Leute die arm sind. Es gibt Medizin, die zahlt deine Versicherung, es gibt aber auch andere, die zahlt sie nicht. Das ist jedenfalls vom Staat. Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich auch nichts. Aber wenn ich im Krankenhaus bin, bekomme ich auch essen.

Wie siehst Du das hier mit dem ganzen Müll der auf der Straße rumliegt?

Der meiste Müll entsteht dadurch, dass die Müllcontainer voll sind. Dann fällt alles daneben und der Wind nimmt das mit. Oder die Hunde und Katzen gehen da rein. Auch dadurch fliegt alles rum und wird vom Wind weggeweht. Daher kommt der ganze Müll. Und dann gibt es natürlich welche, die keine Erziehung haben und den Müll einfach auf die Straße schmeißen. Das sind schlecht erzogenen Menschen. Auch wenn ich vom Müll lebe, ich will nicht im Müll leben.

Was wünschst Du Dir von der Zukunft?

Ich denke nicht an die Zukunft. Es gibt einen Gott, der Besitzer von allen Sachen ist. Ich denke nicht an morgen. Es gibt nur Gott und der ist groß und heilig und ich glaube daran. Nichts wird für ewig sein und ich lebe glücklich, ruhig und ich habe einen Gott der mich liebt und der mich überall beschützt. Das Geld erfüllt mich nicht. Ich kann auf Gott zählen und Du kannst auf mich zählen – egal wo.

Hat sich für Dich durch Corona etwas geändert?

Der Unterschied den ich sehe, ist das Chaos, welches uns der Lockdown bringt. Für mich aber hat sich nichts geändert. Außer, dass es weniger Müll gibt, weil keiner mehr auf der Straße ist und Dinge wegschmeißt. Sogar das Meer hat sich geändert. Es ist viel schöner. Die Polizei stört mich auch nicht. Ich habe nie Ärger mit der Polizei. Niemals. Sie haben mich auch noch nie geschlagen. Aber klar, wenn jemand klaut, bekommt er auf`s Maul.

Vielen Dank Jesus für das Gespräch. Es war sehr interessant.

Kein Problem. Gern geschehen. Wenn du mich brauchst, sag mir Bescheid.


Ich führte das Interview am 5. Juni 2020 vor dem Eingang zu unserer Marina mit Hilfe eines Übersetzers. Es wurde als Sprachmemo per iPhone und externem Mikro  aufgezeichnet und später verschriftlicht.

Ein Kommentar

  • kerstin Hellmich

    Danke, dass du uns die Möglichkeit gibst, Einblick in das Leben in diesem Land zu haben. Es ist beeindruckend zu spüren, welche Zufriedenheit dieser Mann ausstrahlt. Mit welcher Würde er in sich ruht. Er zeigt uns, was wirklich wichtig ist. Alles Gute diesem Menschen, dass ihm wirklich nichts passiert. Und alles Gute für euch.

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