4. Riga – Rail Baltica & Handelskammer
Bei 1.600 Seemeilen durch sieben Länder war mir natürlich schon bei der Törnplanung klar, dass ich unter Umständen unterwegs wetterbedingt Abweichungen von der Route in Kauf nehmen muss. In Lettland war es schließlich so weit. Die ersten beiden Wochen ging es meistens hart am Wind, aber immer gerade noch so in Richtung des jeweiligen Zielhafens. Ab Klaipeda hatten wir den Wind dann jedoch genau von vorn, wir mussten also kreuzen. Mit Daphne haben wir einen eher mäßigen Wendewinkel von circa 115 Gad. Daher verdoppelte sich für uns die zu segelnde Strecke und wir gerieten nach sechs Tagen derart in Verzug, dass wir beschlossen nur bis Ventspils zu fahren und von dort per Bus nach Riga zu fahren. Das ersparte uns über 150 Seemeilen – unter Kreuzen noch mehr. Mit dem Bus dauert die Fahrt drei Stunden. Für Sightseeing und meine beiden Termine hatten wir drei Tage eingeplant, so dass wir für zwei Übernachtungen unsere Koje gegen ein Hotelzimmer eintauschten.
Mein erster Termin führte mich zur Deutsch-Baltischen Außenhandelskammer, deren Besonderheit es ist, dass sich drei Länder eine solche Kammer teilen. Die Mitarbeiter erwirtschaften circa 2 Millionen Euro Umsatz mit Beratung und Dienstleistungen – vor allem durch Vermittlung von Handelspartnern und dem Organisieren Messeauftritten. Sitz der Geschäftsführung ist in Riga.
Zunächst war der Schwerpunkt der Kammer die Unterstützung deutscher Unternehmen bei der Ansiedlung von Tochterfirmen im Baltikum. Inzwischen geht es mehr darum, baltischen Unternehmen bei der Suche nach Märkten und Partnern in Deutschland zu unterstützen.
Einer der Gründungsimpulse war die Wirtschaftskrise 2008 bei der circa ein Drittel der Beschäftigten im Baltikum ihre Arbeit verloren. Es erfolgte ein Umdenken von nationaler auf internationale Ausrichtung. Den Anfang bildete der Export von Holz, inzwischen hat man erkannt, dass sich mit weiterverarbeiteten Produkten mehr Gewinn erwirtschaften lässt und der Export von Möbeln, Spanplatten und Fertighäusern ist stark im Kommen. Als besondere Stärke der baltischen Unternehmen bezeichnete der Geschäftsführer der Außenhandelskammer Maris Balcuns die Flexibilität, die bei noch moderaten Lohnkosten auch kleinere Stückzahlen oder schnell verfügbare Warenmuster zulässt, was beispielsweise Billigproduzenten aus Fernost nicht möglich ist. In einigen Gebieten wie Kaunas wurden Sonderwirtschaftszonen gebildet, die vor allem große Unternehmen wie Continental oder Hella anzogen. Das wichtigste Projekt, bei dem deutsche Hilfe dringend benötigt wird, ist die Umstellung der beruflichen Ausbildung auf das duale System. Also die Verbindung von Berufsschule und betrieblicher Ausbildung.
Die Mitgliedschaft in Handels- und Wirtschaftskammern ist in Lettland freiwillig, worunter die Arbeitsfähigkeit der Institution laut Balcuns teilweise leidet. Als großes aktuelles Problem bezeichnete er außerdem die russischen Gegensanktionen in Richtung Westen, die im Baltikum vor allem hiesige baltische Fischindustrie treffen.Der Termin brachte mir vielfältige Einblicke in die Wirtschaft Lettlands. Balcuns lud mich zur Fortsetzung unseres Austausches noch zum Deutsch-baltischen Wirtschaftstag ein, der am 5. September in Berlin stattfindet. Er würde sich sehr über eine Zusammenarbeit mit Brandenburg freuen – andere Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen seien hier bereits aktiv. Ich sagte ihm zu, mich in Brandenburg dafür einzusetzen, dass auch die Mark entsprechende Kontakte aufbaut.
Mein zweites Treffen hatte ich dann mit Girts Bramans, dem lettischen Geschäftsführer von Rail Baltica. Das von Estland, Lettland und Litauen gemeinsam betrieben Joint Venture hat das ehrgeizige Ziel, bis 2026 eine zweigleisige, elektrifizierte Bahnstrecke durch die drei baltischen Staaten zu bauen. Güterzüge sollen auf diesen 870 km zukünftig mit 120 km/h, Personenzüge mit 160 km/h unterwegs sein. Da das baltische Schienennetz die noch aus Zeiten der Sowjetunion stammende Spurbreite von 1520 hat, muss die komplette Strecke neu gebaut werden. Mit dem europäischen Standard von 1435 mm wäre dann auch eine Verbindung von Helsinki nach Warschau und weiter westwärts gewährleistet. Finnland und Polen unterstützen daher folgerichtig aktiv das Joint Venture. Alle fünf Länder zusammen umfassen immerhin 19 % der EU-Fläche. Diese finanziert das 5,8 Mrd € teure Projekt zu 85 %. Eine gute Investition, wenn man bedenkt, dass die Nutzen einen von „Ernst & Young“ kalkulierten Umfang in Höhe von über 18 Mrd. haben. Von der Reduzierung des Schadstoffausstoßes, Lärmvermeidung, Verringerung von Klimafolgen über Zeitersparnisse, bis hin zu Wachstumseffekten reicht die Palette der berücksichtigten Faktoren.
Bei Rail Baltica direkt arbeiten, verteilt auf die drei baltischen Staaten circa 50 Personen. Die gleiche Anzahl ist bei den jeweiligen Verkehrsministerien für das Projekt tätig. Mit 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern solch ein Projekt in für Bahnprojekte recht kurzer Zeit zu stemmen ist ein recht ambitioniertes Ziel. Ich wünsche Rail Baltica maximalen Erfolg, denn auch in Brandenburg steigt der LKW-Transitverkehr aus osteuropäischen Ländern stetig an. Die neue Trasse brächte also auch für die Mark eine Entlastung. Besonders beeindruckend fand ich neben den technischen und planerischen Herausforderungen vor allem das Zusammenwirken der drei Länder. In Brandenburg haben wir immer wieder Probleme mit der Organisation besserer Verkehrsverbindung in unsere polnischen Nachbarregionen. Vielleicht wäre hier ebenfalls das Modell Joint-Venture eine gute Hilfe. Auch wenn Ministerpräsident Woidke zugleich Polenbeauftragter der Bundesregierung ist, gestaltet sich der Fortschritt bei grenzüberschreitenden Schienenverbindungen äußerst zäh. Vielleicht können wir ja von den baltischen Staaten auch hier etwas lernen.