Besuch auf der „SEAWATCH 5“

Drei Tage und dreizehn Stunden nach unserer Abfahrt aus Griechenland laufe ich mit Nicole (meine Crew für diese Überfahrt) Syrakus an der Ostküste Siziliens an. Während zur selben Zeit an der Nordküste die „BAYESIAN“ mit ihrem 75 Meter hohen Mast auf tragische Weise in einer Gewitterbö untergeht, erreichen wir sicher die Küste. Der Wind hat allerdings auch bei uns zum Schluss ordentlich aufgefrischt, und Richtung Norden sehen wir, wie ein Blitz den nächsten jagt.

Wir liegen in einer großen Ankerbucht in direkter Nachbarschaft zu vier Schiffen verschiedener ziviler Seenotrettungs-Organisationen. Bei „Sea-Watch e.V.“ haben wir einen Besichtigungstermin mit Interview auf der „SEAWATCH 5“ verabredet. Ich möchte mich über ihre Arbeit informieren und erfahren, was die Menschen, die solche Einsätze fahren, antreibt.


Sea-Watch e.V.“ wurde Ende 2014 in Berlin gegründet, nachdem die italienische Marine ihre Seenotrettung-Operation „Mare Nostrum“ beendet hatte. Der Verein leistet aktive Seenotrettung mit eigenen Schiffen und engagiert sich politisch für legale, sichere Fluchtwege. Die Finanzierung erfolgt aus Spenden sowie dem Verkauf von Merchandise-Artikeln (2021=12,1 Mio €). Das Geld wird vor allem für den Betrieb der Schiffe und Personalkosten verwendet. Seit 2020 kommt auch ein Aufklärungsflugzeug zum Einsatz. Webseite von Sea-Watch


Kurz vor Sonnenuntergang setzen wir mit unserem Dinghi über. Kerstine, eine junge Französin in schwarzem Sea-Watch-T-Shirt und Cargohose winkt uns heran und montiert eine Jakobsleiter mittschiffs des ehemaligen Versorgungsschiffes für Ölplattformen. Nicole und ich klettern an Bord. Auf dem Achterdeck herrscht Betriebsamkeit. Heute kommt das Freiwilligenteam an Bord und alle sind dabei, sich zu sortieren und einzurichten. Als Mitbringsel haben wir etliche Tüten Süßkram dabei – Nervennahrung. Der Schiffskoch bringt sie schnell in Sicherheit. Kerstin begleitet uns zu Björn – dem Kapitän – auf die Brücke, doch wir müssen uns noch ein wenig gedulden. Es findet gerade ein Meeting statt und so haben wir vor dem Interview noch Gelegenheit ein wenig mit der Crew zu sprechen.

Jasper zum Beispiel kommt aus Deutschland und ist das erste Mal bei einem Sea-Watch-Einsatz dabei. Allerdings war er zuvor schon bei „Sea-Eye“ aktiv, auch eine Organisation für private Seerettung. Christine ist ebenfalls aus Deutschland und beruflich als Palliativ-Krankenschwester tätig. Sie nutzt ihren Urlaub, um hier bei der Seenotrettung zu helfen. Chiara ist Italienerin und die Einsatzleiterin für diese Mission. Sie wurde uns neben dem Kapitän von Sea-Watch als offizielle Ansprechpartnerin für unseren Besuch benannt. Erste Ansprechpartnerin für die Geretteten ist Anne, die hier als „intercultural mediator“ fungiert. Auf meine Frage, warum sie dabei ist, antwortete sie, dass „die zivile Seenotrettung glasklar eine Notwendigkeit ist, solange die EU keine sicheren Fluchtwege schafft.“ Kerstine kennen wir ja schon von der Jakobsleiter. Bei allen verspüren wir eine Mischung aus großer Motivation und etwas Aufregung, was sie da draußen auf hoher See erwartet.

Nach einer halben Stunde kommt Björn von der Brücke und wir können unsere Fragen loswerden. Zusammen mit Chiara verschafft er uns ein umfangreiches Bild von den Abläufen und Aufgaben an Bord. Zunächst interessiert uns natürlich erst einmal, wer hier so alles auf der „SEAWATCH 5“ an Bord ist.

Die Besatzung gliedert sich in eine maritime Stammcrew sowie einem Einsatzteam für die Rettungsmissionen. Die maritime Crew besteht aus 13 Personen: Kapitän, 1.,2.,3. Offizier (mit großen nautischen Patenten), 1., 2. 3. Ingenieur, einem Elektriker sowie dem Koch, einem Bootsmann und drei sonstigen Besatzungsmitgliedern. Im Einsatzteam sind insgesamt achtzehn Volunteers, davon vier „medicals“ (2xArzt/Ärztin, 2x Sanitätspersonal). Die restlichen fungieren als „Guest-Team“ und „Berge-Crew“. Bevor es in eine Mission geht, steht eine Woche Vorbereitung und Training auf dem Programm. Für die Bergungs-Übungen müssen sie hinaus auf See. Der Hafenmeister hat es untersagt, die Beiboote in der Ankerbucht zu wassern. Um eine Belästigung der anderen Ankerlieger zu vermeiden oder aus Schikane, wissen wir nicht. Platz wäre hier eigentlich reichlich. Alle sechs bis sieben Wochen gibt es einen Wechsel bei den Freiwilligen.

Kapitän Björn kommt aus Hamburg. Er ist früher als 2. Offizier große 300-Meter-Tanker gefahren. Dann war er zwei Jahre 1. Offizier bei Sea-Watch und ist dort nun schon seit drei Jahren als „Master Mariner“ Kapitän im Dienst. Er war schon immer politisch sehr aktiv (Gorleben, Wendland etc.), Bei Sea-Watch hat er zunächst als Freiwilliger angefangen.
Als er in der kommerziellen Schifffahrt tätig war, hatte er jeweils 8 Wochen Dienst, dann 8 Wochen frei – das wurde ihm dann mit dem Ehrenamt irgendwann zu viel und er hat dort gekündigt. Jetzt macht er Sea-Watch hauptberuflich, auch wenn er dort nur ein Drittel seines bisherigen Gehaltes bekommt. Sein Dienst geht jetzt immer 4 Monate und dann hat er 3 Monate frei. Weniger Geld für anstrengendere Arbeit – aber es fühlt sich für ihn besser an, für etwas Sinnhaftes tätig zu sein.

Die Verpflegung an Bord der „SEAWATCH 5“ ist 100% vegan. Laut Björn gab es mal eine entsprechende Abstimmung unter den Crew-Mitgliedern. Der Kapitän selbst ist weder Veganer noch Vegetarier, aber er akzeptiert es. „Fleisch essen kann ich auch zu Hause“. Er wirkt überhaupt sehr entspannt und tolerant gegenüber Minderheiten, anderen politischen Meinungen, diversen Geschlechtern etc.. Auch wenn bei den Vorstellungsrunden an Bord neben den Namen auch das Pronomen genannt wird: Also, mein Name ist Björn, he/him. „Ich brauche das nicht, aber wenn es für andere wichtig ist, mache ich es eben. Da bricht man sich nichts ab.“ Er ist halt Hanseat. Mir gefällt diese nüchtern Art, sich und anderen das Leben nicht mit überflüssigen Grabenkämpfen schwer zu machen. An Bord gibt es auch ein Awareness-Team. Viele verschiedene Leute aus unterschiedlichen Bereichen auf so engem Raum, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, da ist es besonders wichtig, Konflikte möglichst schnell zu erkennen und zu lösen. Und eng ist es an Bord tatsächlich. Alle bewohnen 3- oder 4-Personen-Kabinen, nur der Kapitän hat eine eigene für sich.

Während Björn über den Bord-Alltag redet, füllt sich das Achterdeck. Einige kommen mit ihrem Abendessen, andere machen Fitness-Übungen. Hinter uns liegen drei Crew-Mitglieder und schauen auf die Luxusyachten rund um die „SEAWATCH 5“. Ich komme ins Grübeln, schließlich sind auch wir nur zum Vergnügen segelnd unterwegs, während nicht weit von hier vielleicht gerade Menschen ertrinken. Nachdem er die Leichen von Flüchtlingen im Meer gesehen hat, kann Björn sich nicht mehr vorstellen, hier im Mittelmeer baden zu gehen. „Es ist irgendwie keine schöne Vorstellung, in einem Teich mit Leichen zu schwimmen“, bringt Björn sein Gefühl auf den Punkt.

Wir sprechen nun über die Rettungsroutine bei ihren Missionen. Während des Einsatzes sind immer vier Personen auf der Brücke, um permanent 360 Grad Ausguck zu gehen. Neben eigenen Sichtungen kommen Meldung von Flüchtlingen in Not aber auch z.B. über „alarmphone“ (Notfalltelefon, das 24/7 besetzt ist). Außerdem hat Sea-Watch inzwischen zwei Kleinflugzeuge zur Seeraumüberwachung. Von Bord der „SEAWATCH 5“ ist die Sicht sehr eingeschränkt, weiter als drei Seemeilen kann man ein kleines Schlauchboot vom Deck aus meist nicht mehr erkennen. Nicht viel, wenn man die riesige Fläche bedenkt, in der die Retterinnen und Retter operieren. Wobei die am stärksten genutzte Route nach wie vor über Lampedusa verläuft. Manchmal bekommen sie Meldungen über Schiffbrüchige, bei denen eigentlich ein Tanker oder Containerschiff viel näher dran wären. Aber leider helfen die kommerziellen Schiffe nicht immer – obwohl sie dazu verpflichtet sind. Für die Reedereien ist die Marge häufig wichtiger als Menschenleben.

Auch manche Behörden drücken sich vor ihrer Verantwortung. Malta reagiert inzwischen überhaupt nicht mehr auf Notrufe. In Italien ist es seit dem Regierungswechsel zwar schwieriger, aber immerhin wird reagiert, sobald ein Seenotfall bekannt wird. Laut Chiara werden ca., 80 % der Geretteten von der italienischen Küstenwache geborgen. Im Jahr 2023 wurden ungefähr 120.000 Menschen aus dem Wasser geholt, davon „nur“ 5.000 durch die NGOs (Non-Governmental Organisation). Deshalb sei der Vorwurf absurd, dass erst die Seenotrettung der NGOs die Menschen zur Flucht animieren würde (pull factor). Auch würde sich niemand in Lebensgefahr begeben, nur um ein wenig mehr Wohlstand zu erreichen. Die Flucht aus dem Heimatland ist zudem selten spontan. Oft sind Flüchtlinge jahrelang unterwegs. Immer wieder wird die Flucht unterbrochen, um Geld zu verdienen oder weil es aus irgendwelchen Gründen nicht weitergeht. Auch Anne verweist darauf, dass restriktivere Gesetze und Abschottung kaum einen Einfluss auf die Entscheidungen der Menschen haben, sich auf den Weg zu machen oder nicht, sondern vor allem die Situation in den Heimatländern, ihren Nachbarländern und den Staaten Libyen und Tunesien. Auch hält sie das Gerede von den „Illegalen“ für gefährlich, da es die Geflüchteten einerseits entmenschlicht und andererseits komplett ausblendet, dass es als Flüchtling de facto keine regulären Möglichkeiten gibt, ein für sie sicheres Land zu erreichen.

Und so sterben weiterhin unfassbar viele Menschen auf der Fluchtroute Mittelmeer. 2023 waren es mindestens 4.110. Plus Dunkelziffer, denn niemand vermag abzuschätzen, wie viele sich tatsächlich auf diese gefährliche Route begeben. Während nach dem Untergang der Milliardärs-Yacht „BAYESIAN“ unverzüglich ein gewaltiger Rettungseinsatz startete und die Medien tagelang über neueste Entwicklungen berichteten, sterben die Flüchtlinge weitgehend unbemerkt.

Auch wenn die italienischen Behörden in letzter Zeit privaten Rettungseinsätzen nicht mehr das Anlanden verweigern, kompliziert bleibt es meistens doch. So kommt es beispielsweise vor, dass die „SEAWATCH 5“ mit den Geretteten Häfen in Norditalien anlaufen muss, was natürlich viel mehr Zeit kostet und die Rettung von weiteren Personen in der verlorenen Zeit verhindert. Für diejenigen, die es an Bord geschafft haben, ist es aber okay, weil die Zeit auf dem Schiff in Ordnung ist und sie ein Ziel haben, das sie erreichen können. Es ist besser gegenüber früher, als sie zwei Wochen auf dem Schiff im „stand off“-Modus warteten, ohne einen Hafen zugewiesen zu bekommen. Was mit den Flüchtlingen passiert, nachdem sie an Land gebracht wurden, erfahren sie auf der „SEAWATCH 5“ nur selten. Nach der Rettung kommt zunächst die Identifikation und Registrierung. Für Menschen aus sicheren Herkunftsländern geht es oft direkt zurück in die Heimat. Aber nicht bei allen ist die Herkunft eindeutig. Viele hatten nie einen Reisepass oder er ist unterwegs verschwunden. Kein Wunder bei den vielen Widrigkeiten auf dem strapaziösen Weg.

Die Schiffbrüchigen, nach denen die „SEAWATCH 5“ Ausschau hält, sind auf Booten unterschiedlichster Größen unterwegs. Vom kleinen GFK-Boot auf denen sich vier Personen samt ihrer Koffer befinden, bis hin zum völlig überladenen Fischkutter mit 120 dichtgedrängten Menschen. In der Regel sind es Schlauchboote mit 40-50 Personen. Die größeren Holzboote mit Innenbord-Motoren bergen besondere Gefahren. Dort sind die Menschen auch unter Deck untergebracht. Die Füße in Diesellachen harren sie der Rettung aus. Verbrennungen und Rauchvergiftungen durch Abgase sind die Regel. Björn berichtet von seinem letzten Einsatz, in dem ein zunächst Geretteter später an den Folgen einer Rauchvergiftung verstarb. Auch, weil die Behörden eine Evakuierung an Land viel zu spät genehmigten. Das sind dann die Momente, in denen ihm die schreiende Ungerechtigkeit unserer Welt besonders aufstößt: „Wenn du per Geburt zufällig den richtigen Pass hast, darfst du überall hin, wenn du den falschen hast, nirgendwo.“

Aber nicht nur von Behörden droht Ungemach. Auf See spielt auch nicht immer das Wetter mit. Natürlich begeben sich die meisten Flüchtlinge bei moderaten Bedingungen auf den Weg. Auf dem Mittelmeer kann Wind und Welle aber auch schnell umschlagen. Als Kapitän steht bei ihm die Sicherheit der eigenen Mannschaft an erste Stelle. „Wenn die Retter selbst in Not geraten, können sie auch keinem andren mehr helfen“, begründet Björn seine Haltung „Safety First“. Bei zwei Metern Welle kann ich mit einer Amateurcrew keine sicheren Manöver fahren. Und ist der Wunsch in solchen Situationen noch so groß, Hilfe zu leisten – Eigenschutz geht immer vor.“ In den meisten Fällen lässt das Wetter aber einen Einsatz zu. Gerettet wird ausschließlich über die Beiboote (RIBs), da es sonst für Retter und Schiffbrüchige zu gefährlich wird. Die „SEAWATCH 5“ hält dabei circa eine halbe Meile Abstand und die RIBs (Rigid Inflatable Boats) machen dann den Shuttle-Service.

Ein weiteres Problem, mit dem die Besatzung bei ihren Einsätzen konfrontiert wird, ist die Tatsache, dass egal, wie wenig Leute sie unterwegs aufnehmen – diese immer sofort an Land gebracht werden müssen. Der Aufwand ist natürlich der gleiche wie bei vielen Menschen und bindet unter anderem Kapazitäten für andere eventuell größere Gruppen, die noch irgendwo da draußen sind. Problematisch wird es dann, wenn sie schon 30 Leute an Bord haben und dann unterwegs noch ein Boot mit beispielsweise weiteren 250 Personen entdecken. Mit 280 wird es dann schon ziemlich voll an Bord. Gemäß dem Piantedosi-Dekret dürften sie diese nicht mehr aufnehmen. Tun sie es trotzdem, wird es zum einen ziemlich eng an Bord. Zum anderen drohen bei einem Verstoß gegen das Dekret eine Geldstrafe sowie das Festsetzen des Schiffes für einige Tage. (Nachtrag: Drei Wochen nach unserem Treffen wurde die „SEAWATCH 5“ im Hafen Civitavecchia nördlich von Rom für 20 Tage festgesetzt.)

Für die meisten Einsatzfälle ist die „SEAWATCH 5“ bestens ausgestattet. Sanitärkabinen an Deck, besondere Unterkünfte für Frauen und Kinder, eine kleine Krankenstation, ein extra Küchencontainer, mit dem eine Zeit lang zweimal täglich bis zu 500 warme Mahlzeiten zubereitet werden können und natürlich große Mengen an Rettungswesten.

Neben Problemen mit den italienischen Behörden gibt es auch manchmal Stress mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Sie praktiziert nach wie vor illegale „pullbacks“ – also das Rückführen der Flüchtlinge ans libysche Festland. Chiara ist überzeugt davon, dass dies aufgrund von Abkommen mit der EU passiert und Italien dafür auch bezahlt. Für die Libyer eine recht lukrative Praxis, weil sie ja zusätzlich an den Flüchtlingen verdienen. Diese geben ihr Vorhaben meist nicht auf, sondern versuchen es erneut, sobald sie wieder irgendwie an das nötige Geld gekommen sind. Nicht selten steckt die Küstenwache mit den Schleppern unter einer Decke. Wobei der Begriff Küstenwache eigentlich irreführend ist. Es handelt sich um Angehörige verschiedener Milizen, die nur deshalb als „Küstenwache“ agieren, weil sie von der EU dafür Geld erhalten. Aber wer Milizen Geld überweist, finanziert Gewalt und treibt die Menschen erst recht aufs Meer. So wird der Crew bei ihren Einsätzen auch immer wieder von Folter in Libyen berichtet. Einziger Zweck des Ganzen ist nicht die Rettung, sondern die Flüchtlinge daran zu hindern, Europa zu erreichen. Seit der Europäische Menschenrechtsgerichtshof 2011 urteilte, dass die Praxis von „pushbacks“ – also das „zurückschieben“ illegal ist, versucht es die EU damit, indem sie Libyen die Flüchtlinge „zurückziehen“ lässt. Daher sieht Chiara auch nur eine Lösung, das Drama im Mittelmeer zu beenden: Einen freien Weg nach Europa. An Sea-Watch gefällt ihr, dass es im Gegensatz zu den meisten anderen Organisationen immer auch ein politisches Projekt ist. Es macht wenig Sinn, die Leute aus dem Wasser zu holen, ohne nicht ebenfalls die Ursachen für das Problem anzugehen, so ihr Credo. Auf die Frage nach dem langfristigen Ziel antwortet Chiara: „Free passage for all people“. Und noch etwas unterscheidet Sea-Watch von anderen privaten Rettungs-Initiativen: Hier wird alles in eigener Verantwortung organisiert. Das Schiff ist Eigentum des eingetragenen Vereins und auch das Ship-Management ist komplett „in house“. Andere Organisationen haben meistens Charterschiffe mit fremder Stammbesatzung oder geleaste Schiffe. Neben den etwas größeren Initiativen gibt es sogar eine Segelyacht, die sich auf die Suche nach Schiffbrüchigen macht. Björn berichtet mir von der „NADIR“. Die 19-Meter Ketsch fährt auch seit Jahren Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer.

Auch wenn es keine übergeordnete Koordination gibt, die Abstimmung mit den anderen Organisationen funktioniert gut. Man informiert sich, wer wohin fährt, beispielsweise damit nicht zwei Schiffe im gleichen Gebiet operieren. Mit der italienischen Küstenwache sind die Erfahrungen durchmischt. Natürlich gibt es immer wieder funktionierende Zusammenarbeit, nämlich dann, wenn die Küstenwache ihre Aufgaben ordentlich erfüllt. Leider reagieren sie aber oft sehr verspätet oder überhaupt nicht auf Fälle, die sich nicht in italienischer Küstennähe befinden. Ein weiteres Problem ist, dass das MRCC (Maritime Rescue Coordination Center) in Rom in der Regel keine zivilen Schiffe mehr über Seenotfälle informiert.

Langsam wird es dunkel in der Ankerbucht. Björn verabschiedet sich, er muss wieder auf die Brücke. Wir sitzen noch ein wenig mit einigen Crew-Mitgliedern auf dem Achterdeck und plaudern, bevor es mit dem Dinghy zurück zur Daphne geht. Auch wenn wir durch die Medien bereits einiges schon kannten, über das wir heute sprachen – die Begegnungen und Gespräche vor Ort hinterlassen natürlich einen viel tieferen Eindruck als Nachrichtenmeldungen. Wir sind einerseits sehr bedrückt ob der konkret geschilderten Situationen, aber auch tief beeindruckt vom Engagement und dem persönlichen Einsatz der gesamten „SEAWATCH 5“-Besatzung. Aus der Spendenkasse unserer Veranstaltungsreihe überweise ich 500 €, wohl wissend, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Die eigentlichen Hebel, um das furchtbare Sterben im Mittelmeer zu beenden, befinden sich in Brüssel. Und natürlich in der Beseitigung der Fluchtursachen – so banal dieser Satz auch klingen mag.

Zum Gastbeitrag von Katrin Göring-Eckardt

3 Kommentare

  • Daniela

    Lieber Micha, ganz herzlichen Dank für diesen ausführlichen umfassenden Beitrag, der einen fundierten Einblick in die tatsächliche Realität des täglichen Umgangs mit der Flüchtlingspolitik der EU gibt. Es macht einen betroffen und wie Du bereits feststellt, diese persönliche Begegnung verdeutlicht noch mal viel mehr, wo unsere Menschlichkeit verblieben ist, als wie es uns durch die Medien immer wieder relativiert vermittelt wird. Danke für Dein/Euer Engagement

  • Georg

    Kleine Korrektur: „Civitavecchia“

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